Als der, der das hier aufgeschrieben hat, mich gefragt hat, ob er mit mir über meine Zeit in Deutschland sprechen kann, habe ich gesagt, dass ich lieber in Ruhe gelassen werden möchte. Wen geht das an? Wer interessiert sich dafür? Und warum? Darüber kamen wir ins Gespräch. Und dann habe ich ihm dieses erzählt:

Mein Name ist Ali. Ali ist der Name des Enkelsohns Mohammed, ein heiliger Name bei uns Aleviten. Deswegen wurde ich so genannt.

Lange habe ich darauf gewartet, nach Deutschland zu kommen. Immer wieder bin ich in Pülümür zum Arbeitsamt gegangen und immer wieder hieß es: du bist noch nicht dran, noch nicht an der Reihe. Ich war schon 28 und meine Freunde kamen aus Deutschland zurück im Urlaub und trugen Krawatte. Da hörte ich mal, dass der Direktor der Zuckerfabrik, in der ich arbeitete, der Cousin des Direktors des Arbeitsamtes war.

Ich ging zu ihm, gab den Handkuss und fragte, ob er mir helfen könnte. 4 Wochen später erhielt ich einen Brief mit einer Arbeitserlaubnis in Deutschland.

Ich packte meinen alten Holzkoffer, darin Klamotten und was zu essen: Brot, Weintrauben und Käse. Meine Mutter gab mir noch diesen Teller mit, das blaue Auge sollte mich vor Bösem schützen. Bis heute hat das geklappt.

Als wir nach 3 Tagen Zugfahrt von Istanbul nach Füssen am Bahnhof dort von Leuten von der Firma abgeholt wurden, gab es in einem Gasthaus ein halbes Hähnchen mit Pommes. Wir waren richtig ausgehungert und es schmeckte sehr gut, mir und meinem Freund Micael. Ich weiß es noch wie heute, es war der 12. April 1969.

Ali S. 1933 1

Am nächsten Tag habe ich angefangen auf dem Bau zu arbeiten und nach 3 Tagen sagte mein Capo, der Vorarbeiter, ich müsse in die Kanalisation. In meinem Overall aus dickem Gummi stand ich dann in der Scheiße. Bis unter die Achseln, rechts und links, floss sie an mir vorbei. Und ich habe den ganzen Plastikmüll rausfischen müssen, der in die Kanalisation gelangt war und immer wieder alles verstopfte.

8 Monate habe ich dort unten gearbeitet, 9 Kilo habe ich in dieser Zeit abgenommen. Als mein Kollege, der auf dem Bau arbeitete, meinen Lohnzettel sah, 1300 Mark, ging er wütend zum Capo und sagte, warum kriegt Ali 1300 Mark und ich nur 850? Da sagt der Capo: willst du diese Arbeit da unten in der Kanalisation machen? Nein, sagte mein Kollege, Ich bin doch nicht doof! Doch, sagte Manfred, der Capo. Ich weiß nicht mehr wie er hieß, dieser Kollege. Wenig später wurde er entlassen. In Lehrte habe ich dann bei Kali und Salz angefangen, erst als Rangierer und dann als Lokführer.

Ali S. 1933

Hier in Hannover hatte ich Verwandte und Freunde, hier kannte ich wenigstens wen. In Füssen war ich alleine. 26 Jahre habe ich Dünger und Salz nach Peine transportiert. Auch nachts, manchmal ganz alleine.

Manchmal 19 Stunden eine Schicht. Für die Spätschicht gab es eine Zulage, 154 Mark die Woche. Zwei Mal habe ich Tote gesehen, nachts, an den Bahngleisen. Einmal eine im Graben daneben. Da habe ich mir Gummistiefel angezogen, sie rausgezogen und dann die Polizei angerufen.

Ich habe dort sehr gerne gearbeitet, ich war anerkannt und hatte freundliche Kollegen. Mit Rudi Kurbjuweit und Günther Neumann telefoniere ich ab und an und wir gehen Kegeln und trinken Bier. Wie Verwandte. So habe ich auch Deutsch gelernt, immer und immer wieder gefragt, bis ich es verstanden habe und sagen konnte.

Heute im Alter geht es mir gut. Obwohl ich alleine bin. Ich habe ja meinen Garten Dort gibt es Kartoffeln und Zwiebeln und Obstbäume und Minze. Sich um den Garten zu kümmern hält fit. Ich habe 4 Kinder und 5 Enkel. Immer wenn ich sie besuche, sagt mein Enkel mit dem Ball unterm Arm: Opa komm spielen.

An meinen Opa kann ich mich kaum noch erinnern. Er war blind. Und wenn ich ihn besuchte, sagte er: Wie sieht mein Enkel aus? Und dann beschrieb man mich: Alles dran, hübsche Augen, schlanke Gestalt, dunkle Haare. Und dann war er zufrieden.

Altersheim? Bloß nicht. Am liebsten möchte ich einfach so sterben. Zu Hause in Lehrte.

Morgens esse ich 3 Scheiben Brot, Gurke und Tomate, auch Käse und Salami. Dann gehe ich einkaufen. Ich koche gerne. Nachmittags fahre ich mit dem Zug nach Hannover in die Alevitische Gemeinde. Dort spiele ich Karten, wir diskutieren über Politik. Fußball interessiert mich nicht. Wir spielen Backgammon oder 51.

Abends schaue ich fern, gerne schöne Filme, die in Deutsch. Politische Sendungen lieber auf Türkisch. Nasil yasarsan öyle ölürsün. Wie du lebst, so stirbst du.